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Writings on Art
Fiction





STEFAN EWALD WRITER

WRITINGS ON ART & FICTION





Syndrome im Schatten der Ordnung

über die künstlerische Arbeit von Deborah Uhde und Maria Manasterny
(Begleitender Katalogtext zur gleichnamigen Ausstellung vom 13.09-05.11.2017, GALERIE SCHWARTZSCHE VILLA BERLIN)

Es gibt Momente, da entlarvt sich das vermeintlich Bekannte als unbekannt. Das plötzlich Fremde kann in der Landschaft zu finden sein, wie ein eingezäunter Haufen, der vor einer Küstenlandschaft aufragt oder das erste, schwache Symptom einer Lungenkrankheit, die uns an den Diwan fesseln wird. 

Das Fremde ist auch Thema der Videoarbeit The Cluster von Deborah Uhde. Sie demonstriert, wie die Wissenschaft dem Unerklärchlichen in ihrer Umwelt begegnet und versucht, es mit Hilfe von Theorien wieder erklärlich zu machen. 

Aber der Reihe nach: Die Künstlerin befindet sich auf einer Insel. Mit der Kamera tastet sie die verlassene Landschaft ab. Auf einmal fällt ihr suchender Blick auf einen merwürdigen Haufen aus Schutt. Im Hintergrund hören wir unterschiedliche Stimmen, vermutlich Wissenschaftler, die über etwas referieren, das sie Cluster nennen. Schnell ist klar, dass es sich um wissenschaftsjournalistische Fernsehsendungen handeln muss, aus der die Tonspur besteht. Immer wieder geht es um kosmische Strukturen und organische Geflechte, die in der Natur oder dem Universum zu finden sind. Als Betrachter gerät man sofort in Versuchung, alles verstehen zu wollen und dem Gesehenen die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen wie einer gewöhnlichen Dokumentation.

Deborah Uhde stellt mit ihrer Arbeit die Frage, wie die Welt funktioniert und inwieweit die Wissenschaft dieses Funktionieren zu erklären vermag. Systematisch arbeitet sie einen blinden Fleck heraus, indem sie Fiktion und Realität zusammenlaufen lässt und somit Wissenschaftlichkeit behauptet, wo keine zu finden ist.

Der Philosoph Karl Popper sagt, dass die Wahrheit einer Theorie nie endgültig bewiesen werden kann, sondern lediglich ihre Wahrheitsähnlichkeit. Womöglich wissen wir nichts über die Cluster dieser Welt. Die Wirklichkeit, in der wir uns mit traumwandlerischer Sicherheit bewegen, könnte jederzeit wieder für falsch erklärt werden. Es ist die Wissenschaft, die sich um eine vermeintliche Objektivität bemüht, und es ist die Kunst, die sich traut, dieser Objektivität spöttisch ins Gesicht zu lachen.

Realität und Fiktion verschwimmen ebenso im Experimentalfilm Das Leben vom Diwan aus von Maria Manasterny. Die Arbeit handelt von einer Frau, die an einer schweren Lungenkrankheit leidet. Traumartig aneinandergereihte Sequenzen ergeben eine Geschichte, die der Künstlerin als fantastischer Erzählrahmen dient. Wer ist die Frau, deren Stimme wir hören? Was hat sie erlebt? “Die ganze Zeit denke ich, es muss doch was getan werden”, sagt diese Stimme. “Genau jetzt. Da muss etwas passieren, da muss ich etwas machen. Jetzt.” Maria Manasterny thematisiert in ihrem Film die Orientierungslosigkeit des Einzelnen in Anbetracht des gesundheitlichen Totalausfalls. Die Protagonistin kann nicht mehr alleine schlafen, zu groß ist die Angst, dass die Atemnot wieder einsetzen könnte. Der beschwerliche Gang zum Jobcenter wird zum Spießrutenlauf. Was bedeutet es, in unserer Gesellschaft krank zu sein? Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Körper auf einmal zu fremden Terrain wird? 

Diesen Fragen geht die Künstlerin auch in ihren Collagen nach. Da ist zum Beispiel eine Frau mit Gasmaske, die einen mysteriös anmutenden Wagen vor sich herschiebt. Oder eine andere Person, die in einer Apparatur gefangen zu sein scheint, die sich bei genauerer Betrachtung als Röntgenmaschine erweist. So verwandeln sich die Körper der Kranken im Laufe der medizinischen Untersuchung immer mehr zu bedrohlichen Objekten. Maria Manasterny schildert, wie Patienten zu Beobachtern ihrer selbst werden, indem sich ihr individuelles Kranksein im Beisein der Ärzte gleichsam studieren und dabei einen unheimlichen Moment der Entfremdung erleben. 

Syndrome, das ist der Titel dieser Ausstellung. Unter einem Syndrom wird überlicherweise die Gruppierung typischer Merkmale einer Krankheit verstanden. Und so stellt sich die Frage, was eigentlich das Symptomatische an der Kunst ist, wenn man sich erlaubt, die Kunst für einen Moment als Krankheit zu verstehen. Das Pathologische, das ist das Andere, das Unnormale, könnte man sagen. Und es ist die Kunst, die aus dem Normalen das Andere hervorholt und ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit stellt. Vielleicht sind die Arbeiten, die Deborah Uhde und Maria Manasterny uns hier präsentieren, selbst ein Syndrom. Aber ein Syndrom von was?, möchte man fragen. Es ist die strukturelle Offenheit der Werke, die den Betrachtern die Möglichkeit gibt, darauf selbst eine Antwort zu finden.