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Writings on Art
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STEFAN EWALD WRITER

WRITINGS ON ART & FICTION





Another Descent into the Maelstrom

über die Videokunst von Julia Charlotte Richter
(Ausstellungstext im Rahmen der Ausstellung “POINT BLANK”, 04.06-13.06.2021, HILBERT RAUM BERLIN, kuratiert von Clemens Wilhelm)


Wenn es eine Sache gibt, die mich die letzten Jahre begleitet hat, dann ist es die Frage, ob ich jemals wirklich erwachsen werden kann. Unter Erwachsen-Sein verstehe ich das Ankommen, eine Art Kongruenzgefühl, das sich idealerweise irgendwann mit Mitte Zwanzig einstellt und von dem man dann die weiteren kommenden Jahre wie aus einem Energiespeicher profitiert. Die besten Jahre können nur die besten sein, wenn man über ein inneres Gleichgewicht verfügt, das durch die Übereinstimmung von Wunsch und Realität entsteht. Was passiert aber mit uns, wenn diese Entwicklungsaufgabe nicht gelingt?

Die Künstlerin Julia Charlotte Richter produziert Videoarbeiten, die mich an diese Frage erinnern und von denen ich das Gefühl habe, dass sie auf besondere Weise das Thema des Erwachsenwerdens thematisieren. Dabei handeln ihre Arbeiten nicht nur von jungen Menschen und deren Herausforderungen, sondern von einer fragilen inneren Zerbrechlichkeit, die uns alle betrifft.  

So sehen wir in Camp (2017) drei junge Menschen, von denen nicht gesagt werden kann, ob es sich bei diesen noch um Kinder oder bereits um Jugendliche handelt. Sie befinden sich auf einem Dachboden, an einem in dunklen Blautönen eingefärbten Ort. Wir hören Regen, wir sehen ein provisorisches, aber dennoch gemütlich-romantisches Schlaflager. Dieser Raum könnte genauso Stätte einer aufkeimenden Jugendliebe sein, bei der eine der drei Figuren das Nachsehen haben wird. Die Verschlafenen stehen auf, machen sich bereit und beginnen ein faszinierendes, aber zugleich beunruhigend wirkendes Ritual durchzuführen. Es wird gemurmelt, gesummt und sich in Extase gesteigert. Eine fast erotische Ladung fährt in die jungen Körper ein, scheint sie zu ergreifen und zu einem Moment der Transzendierung zu führen. Wenn man die Kinder so sieht – und ich kann nicht anders als diese Figuren als Kinder zu lesen – dann wird eine besondere Einsamkeit, eine Isolation zwischen den Beteiligten sichtbar. Sie sprechen nicht miteinander, es fehlt die unbeschwerte Kommunikation von Kindern, die sich miteinander beschäftigen. Julia Charlotte Richters Protagonisten in Camp sind mit einem unbekannten Auftrag betraut. Je länger ich mich mit dieser Arbeit beschäftige, umso dramatischer erscheint mir das, was die Künstlerin uns erzählt: Eine höhere Macht anrufen zu müssen, ist für den Menschen eine Bürde. Eine Bürde deshalb, weil die okkulte Auseinandersetzung mit der anderen Seite deutlich macht, dass dem nach Transzendenz suchenden Ich etwas fehlt, das es auf der Erde aber nicht bekommen kann. In Camp ist es traurig und schön zugleich anzusehen, wie diesen jungen Menschen etwas ganz Essenzielles (nur was?!, möchte man fragen) zu fehlen scheint.  

Ebenso unwissend bleiben Betrachtende im Hinblick auf die junge Frau, die in Point Blank (2019) durch die Wüste geht und dort auch auf der Suche nach etwas ist. Mit sinnlich-weichen Kamerabildern wird eine junge Frau gezeichnet, deren Namen ich unbedingt kennen möchte, aber nicht erfahren kann. Wolkenschatten gleiten wie flüssige Melanome über die Berge. Die Protagonistin dringt immer tiefer in die Wüste, also ins vermeintliche Nichts, ein. Wie Alice erscheint sie als winzige Figur zwischen dem surrealen Gesträuch und entfernt sich immer mehr von einem lebendigen und heiteren Ort (ich stelle mir vor, wie ihre Freundinnen, wie aus einem Roman von Emma Cline, am Santa Monica Pier auf sie warten) und endet schließlich schreiend und sich windend an genau der Stelle, an der Marilyn Monroe im Film The Misfits (1961) bereits stand. Julia Charlotte Richter bezieht sich mit Point Blank auf eine Filmszene, in der sich die frisch geschiedene Hauptfigur Roslyn (Marilyn Monroe) gegen drei abgehalfterte Cowboys aufbäumt und diese mit ihren Ängsten, Mängeln und verlorenen Träumen konfrontiert. Doch im Gegensatz zu Roslyn richtet sich die junge Frau in Richters Video nun an abwesende Adressaten: „Liars“, „Murderers“ und „Dead Men“ ruft sie. Die Worte, die sich wie Schüsse in der Luft verteilen, fallen jedoch wieder ungehört auf sie zurück. Außer einem kaum vernehmbaren Echo gibt es keine Resonanz an diesem Ort, der als dramatische Sehnsuchtskulisse in die kollektive Kinogeschichte eingebrannt ist und die Besessenheiten einer verzerrten, patriarchalen Gesellschaft abbildet. An der selben Stelle, wo Roslyn noch drei Männern ein erschrockenes Staunen entlocken konnte, bleibt die junge Frau in Julia Charlotte Richters Video allein und ungehört, die Wüste als einziger Zeuge ihres Manifests, ihrer Wut, aber auch ihrer Stärke.

Wut ist ebenfalls ein Thema in Richters And the Stars of the Sky Fell to the Earth (2021). Ein Junge sitzt auf dem Boden seines Kinderzimmers und beschäftigt sich konzentriert mit seinem Spielzeug. Er dreht ein Auto zwischen seinen Fingern umher und lässt es langsam zu Boden herab, so als würde es vom Himmel fallen. Allmählich steigert sich die rhythmische Inszenierung und der Junge macht mit seinem Mund explosive Geräusche, zerstört mit ganzer Kraft seine eigene Spielzeugwelt, ohne dass wir sehen können, um welche Spielzeuge es sich eigentlich handelt. Der Junge ist Weltenerbauer und Weltenzerstörer zugleich. Wenn ich dieses Video sehe, wird mir klar, wie viel Wut in Kindern verborgen liegen kann und dass es oft das Spiel ist, in dem sich solche Wut zu erkennen gibt. So stellt sich auch hier die Frage, was den Jungen zu diesem zerstörerischen Spiel antreibt. Ist es die gesunde kindliche Lust am Kreieren und Einreißen oder handelt es sich hier bereits um den infantilen Versuch, einen latenten Konflikt zu bewältigen?  

1848 schrieb Edgar Allen Poe eine Erzählung mit dem Titel A Descent Into the Maelstrom. Die Geschichte handelt von einem Seefahrer, der mit seinem Schiff in einen monströsen Wasserstrudel gerät und diesem nach einem stundenlangen Überlebenskampf glimpflich entkommt. In Poes Geschichte erfährt der Protagonist aufgrund seiner Erfahrungen im Strudel eine befreiende Läuterung. Julia Charlotte Richters Kunst steht für mich mit dieser Geschichte eng in Verbindung. Immer wieder steigen ihre Figuren in den Mahlstrom hinab, um dort gegen ein inneres Chaos anzutreten. Die Adoleszenz ist ein Entwicklungszeitraum, der besonders durch diese inneren Kämpfe bestimmt wird. Julia Charlotte Richter allerdings berichtet vielmehr vom Wachsen des Menschen, von der Entwicklung seiner Persönlichkeit im Allgemeinen. Es ist sind jugendliche Körper, in denen eigentlich ausgewachsene, aber eben nicht erwachsene Persönlichkeiten zu sehen sind. Durch die jugendlichen und kindlichen Körper treten die Ausgewachsenen lediglich symbolisch in Erscheinung. Es sind wir selber, die scheinbar abgeklärten Betrachter, die eine apokalyptische Wut erleben; wir, die durch die Wüste laufen und in das Nichts hinausschreien oder in der Gegenwart unserer ebenso verlassenen Freunde die Götter um Hilfe rufen.

Und selbst wenn ich mich nicht in allen von Richters Figuren erkennen kann, ruht mein Blick auf ihren Bildern und ein Teil meiner Gefühle verleibt in Kontakt mit ihren Geschichten, weil ich spüre, dass da etwas ist, das Erinnerungen wachruft. Julia Charlotte Richters Kunst geht über die individuelle Wahrnehmung hinaus, sie verwendet archetypische Symbole, die auf der Ebene des Unbewussten wirken und dort verborgene Gefühlsanteile in Schwingung versetzen. Wir können die Protagonisten ihrer Videoarbeiten irgendwie „verstehen“ ohne jedoch genau zu begreifen, was da in den Figuren eigentlich vor sich geht. In jeder Betrachterin, in jedem Betrachter bleibt ein Rest an Unverständnis erhalten, der mit der Bilderwelt der Künstlerin korreliert. Der Rest an Unverständnis ist das, was die Betrachtenden aufgrund der lückenhaften Erzählweise projektiv erweitern. Die Narrationen von Julia Charlotte Richter sind eben keine Storys im klassischen Sinne und sorgen daher dafür, dass die Betrachter die Bilder zu größeren Geschichten komplettieren, indem sie an ihre eigenen Erfahrungen anschließen. Dort beginnt für uns alle die ästhetische Erfahrung und – im weitesten Sinne – ein erneuter Sturz in den Mahlstrom.